Oder: Ein Aufruf zum Innehalten.

Lukas Hille kommentiert das Pegida-Phänomen

Pegida, Pegida, Pegida – egal welche Zeitung man bevorzugt, momentan gibt es kein anderes Thema. Ich habe mir mal den Spaß erlaubt, und in meiner E-Paper- App der FAZ zurückgeblättert: Von den letzten 14 Titelblättern enthielten 13 eine Meldung über die Bewegung in Dresden, unterbrochen nur vom Entsetzen nach den Anschlägen von Paris.

Hätte mir in der Diskussion um die Rente mit 63, den Mindestlohn oder bei der Abschaffung der Extremismus-Klausel jemand gesagt, dass man nur etwa 30.000 Stimmen braucht, um das ganze Land in Aufruhr zu versetzen, dann hätte ich mal einen Aufruf gestartet und den Dingen ihren Lauf gelassen.

Aber gut, zurück zum Ernst der Lage: Natürlich titelt man mit Pegida, die Bewegung polarisiert, sie interessiert die Massen – ich will nicht sagen: Sie verkauft sich gut. Denn das wäre ja wieder Medienkritik, und schnell würden meine Mitstudenten mir unterstellen, ja doch irgendwie Sympathien für die Gründe zu haben, aus denen diese Gruppe demonstriert.

Wer, Wie, Was, Warum?

Und schon sind wir am Kern des Problems: Wer demonstriert da eigentlich in Dresden? Eine Studie der TU Dresden hat versucht das zu beantworten, demnach seien über 50% aus allgemeiner Kritik an der Politik, etwa 25% aus medienkritischen Gründen und nur um die 15% aus Abneigung gegen Asylbewerber dort. In den sozialen Netzwerken und Blogs gaben sich eine ganze Menge Pegida-Gegner direkt im Anschluss allergrößte Mühe, die Wissenschaftlichkeit der Studie anzuzweifeln. Und sie haben Recht: Wenn zwei Drittel der ausgewählten Demonstranten nicht antworten wollen, dann ist eine Studie kaum repräsentativ. Aber selbst wenn sie das nur für das am wenigsten radikale Drittel von Pegida ist, bleiben immernoch über 7000 Menschen, die nicht aus rassistischen Motiven auf der Straße stehen – was das Pauschalurteil der Gegendemonstranten immer noch fragwürdig macht. Will man differenzieren, dann muss man auch als entschiedenster Pegida-Gegner zugeben: Die Bewegung hatte und hat einen gemäßigten Flügel.

Ziemlich verfahrene Situation also. An einem besteht kein Zweifel: Die Parolen von der Organisatoren sind platt, die Bewegung steht in ständiger Gefahr, von rechten Rattenfängern übernommen zu werden, und gerade historisch muten Demonstrationen, die ihren Namen gegen einzelne Gruppen der Bevölkerung richten, sehr negativ an. Und dennoch: Man kann weder von einer Nazidemonstration noch von rein rassistischen Motiven sprechen.

Eine "Ja-oder-Nein"-Frage?

Wie verhalte ich mich also zu Pegida? Für viele Menschen in unserem Land scheint das klar zu sein: Auf die Straße, Flagge zeigen für Vielfalt, Toleranz und Nächstenliebe! Ein Aufruf, dem man ja fast nur zustimmen kann. Oder nicht? Also ab zur Gegendemo, denn: Man muss ja etwas tun!

Ja, man muss etwas tun. Ohne Frage, die momentane Situation ist ein Symptom, das man kaum ignorieren kann. Aber man muss aufpassen, dass man die richtige Diagnose stellt, um die Krankheit hinter dem Symptom zu erkennen – und die richtige Behandlung zu finden!

Und deshalb muss an dieser Stelle der Aufruf stehen: Durchatmen, Innehalten, nochmal das Krankenblatt in die Hand nehmen. Denn die falsche Behandlung kann oft mehr Schaden anrichten, als sie heilt.

Betrachtet man die Struktur der Demonstranten von Dresden, so fällt auf, dass man es vor allem mit Menschen zu tun hat, die sich bei den letzten Wahlen in unserem Land entweder unter den „Sonstigen“ oder – viel öfter – den „Nichtwählern“ wiedergefunden haben. Seit Jahren wird die Gefahr der Politikverdrossenheit in unserem Land gepredigt, jetzt haben wir ihre ersten Resultate vorliegen. Die inhaltlichen Positionierungen von Pegida sind auch keine neuen – sie sind nur, wie für Demonstrationen üblich, vollkommen plakativ formuliert und treten radikalisiert auf.

Schon 2005 warnte Altkanzler Helmut Schmidt (SPD) vor zu viel Einwanderung aus fremden Kulturen, sofern man nicht vorher evaluiert habe, welchen Einfluss das auf die deutsche Identität habe. Der SPIEGEL titelte 2007 „Mekka Deutschland – Die stille Islamisierung“, und Bundeskanzlerin Angela Merkel beobachtete 2010: Multi-Kulti ist in Deutschland gescheitert. Auch die Medienkritik ist nicht neu: Bundestagspräsident Lammert kritisierte die mangelnde  Berichterstattung der Medien über politische Inhalte in seiner Eingangsrede zur Legislaturperiode 2009 scharf, und 2013 stellten sich nach der Sexismus-Debatte um Rainer Brüderle nicht wenige die Frage, ob unsere Medien noch informieren, oder eben nur noch kalkulieren, was sich verkauft.

Nun behauptet wohl kaum einer, dass die genannten Quellen alle Vertreter eines rechtsradikalen Spektrums sind. Sie haben legitime Punkte angesprochen – die sie selbst und andere in der Umsetzung gekonnt ignoriert haben. Auch für das Gefühl, sich politisch nicht vertreten zu wissen, gibt es seit einer gefühlten Ewigkeit Anzeichen: Die Mitgliedschaften in den im Bundestag vertretenen Parteien hat sich in den letzten 25 Jahren etwa halbiert, und das obwohl das Angebotsspektrum sich stetig erweitert hat. Bei der bald anstehenden Kommunalwahl bei uns in Hessen sucht man händeringend nach Kandidaten. Und die Wahlbeteiligung ist und bleibt höchstens in ihrer Schwäche konstant. Das Gefühl, dass immer mehr Entscheidungen vom Bürger und auch vom einfachen Parteimitglied weggetragen werden, kann man also schon seit langem nachweisen.

Die Radikalisierung als Antwort auf die Politikverdrossenheit.

Pegida ist ein neuer Ausdruck dieses Gefühls, eine Radikalisierung, ein ganz normales politisches Phänomen, zu sehen von der Weimarer Republik im Extrem über die Ergebnisse der Europawahl in Frankreich bis hin zum Wahlergebnis in Griechenland am Wochenende.

Mit dieser Erkenntnis kommt – zumindest bei mir – auch das Eingeständnis, dass es keine einfache Antwort auf Pegida gibt. Um es plakativ zu machen: Pegida kann keine Ja-Nein-Frage sein! Und deshalb wird es langfristig auch wenig Sinn machen, gegen diese Gruppe demonstrieren zu wollen. Denn Demonstrationen sind in ihrem Wesen plakativ, sie rufen dazu auf, Parolen zu skandieren, sie erfordern ein einfaches, simples, gemeinsames Ziel. Pro-und-Contra-Demonstrationen werden dazu führen, dass sich zwei Lager verhärten und wachsen. Letztendlich werden die Themen, um die es geht, so aus dem politischen Prozess auf die Straße gezerrt und – was viel schlimmer ist – inhaltlich entleert. Letztendlich wird es nur noch um „dafür“ oder „dagegen“ gehen, Pegida wird dann zu  einem Wert an sich.

Auch dafür gibt es bereits Anzeichen: Eine Freundin berichtete mir vor kurzem, ihr Mitbewohner habe ihr Sympathien für Pegida und rassistisches Gedankengut unterstellt, als sie ihn nicht zu einer Gegendemonstration begleiten wollte. In Nürnberg wurden vor kurzem Anhänger der JuLis von einer Gegendemo vertrieben – weil sie ein Banner „gegen jeden Extremismus“ mit sich trugen. Und gerade gestern wurde auch mir von einem ehemaligen Schulfreund vorgeworfen, meine Partei sei nicht bei der Protestveranstaltung gegen Pegida in Frankfurt zu sehen gewesen.

Allgemein sieht man auch auf Seiten der Gegendemonstranten Leute auf der Straße stehen, von denen ich genau weiß dass sie weder bei der letzten Uniwahl ihre Stimme abgegeben haben oder sich zur Bundestagswahl 2013 aufraffen konnten, noch oft Interesse an politischen Inhalten gezeigt haben. Man müsste sich freuen, wenn die Gesellschaft politisiert wird – aber doch bitte inhaltlich versiert. Toleranz und Weltoffenheit müssen vermittelt, nicht skandiert werden. Sie haben nur einen Wert, wenn sie gelebt und gelehrt, und nicht als Parolen missbraucht werden.

Die Mitte machts!

Die Antwort, das Mittel, die Medizin gegen den plakativen und oft populistischen Protest von Pegida ist ein mehr an Differenzierung, ein offenerer Parlamentarismus, eine bessere Debattenkultur inner- und außerhalb der Parteien, die Rückbesinnung auf die Vermittlung politischer Inhalte, eine Profilschärfung der Parteien und eine Rückkehr der Medien zu ihrer Verantwortung als „Vierte Gewalt“ im Staat. Wenn man Pegida nicht stärken und – noch schlimmer – die Menschen in ihren Reihen rechten Rattenfängern überlassen will, dann muss dazu übergehen, wieder miteinander statt übereinander zu reden, oder sogar gegeneinander zu schreien.

Pegida hat die Systemfrage gestellt – die richtigen Antworten darauf sind ein Bekenntnis zu und die Partizipation innerhalt unseres Systems, das so demokratisch und funktional ist wie kaum ein anderes auf der Welt.

Ja, wir müssen etwas tun! Wir müssen innehalten, uns zurückbesinnen und dann Verantwortung übernehmen. Denn wir alle sind das Volk! Wir alle sind das Souverän! Und wir alle tragen die Verantwortung!

Von Demokratie, Demonstrationen und der staatsbürgerlichen Verantwortung »